2014/03/11

Familiennachzug Ausländer Härte Krankheit Krankenversicherung


Außergewöhnliche Härte

Die familiäre Verbundenheit zwischen Eltern und erwachsenen Kindern ist regelmäßig nicht so beschaffen, dass von Verfassungs wegen die Ermöglichung des Familiennachzugs geboten wäre. Etwas anderes gilt daher nur, wenn die Familie im Kern die Funktion einer Beistandsgemeinschaft erfüllt, weil ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen angewiesen ist und sich diese Hilfe ausschließlich in der Bundesrepublik Deutschland erbringen lässt.

Nach § 36 Abs. 2 AufenthG kann einem sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Das mit dem unbestimmten Rechtsbegriff der „außergewöhnlichen Härte“ erfasste Tatbestandsmerkmal bezeichnet im Vergleich mit dem im Aufenthaltsgesetz an anderer Stelle verwendeten Begriff der „besonderen Härte“ noch gesteigerte Anforderungen. Danach müssen die Besonderheiten des Einzelfalles nach Art und Schwere so ungewöhnlich und groß sein, dass die Folgen der Visumsversagung unter Berücksichtigung des Zwecks der Nachzugsvorschriften, die Herstellung und Wahrung der Familieneinheit zu schützen, sowie des Schutzgebots aus Artikels 6 des Grundgesetzes schlechthin unvertretbar wären.  


Man sollte also klar sehen, dass es sich in der Rechtsprechungspraxis um die Anwendung einer Ausnahmevorschrift mit entsprechend hohen Zugangshürden handelt. Sind die Personen, zu denen der Familiennachzug stattfinden soll, deutsche Staatsangehörige, ist die Vorschrift entsprechend anzuwenden, vgl.  28 Abs. 4 AufenthG. Die Frage, ob das Aufenthaltsrecht zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist, unterliegt als Tatbestandsvoraussetzung der uneingeschränkten gerichtlichen Überprüfung. Bei der Auslegung und Anwendung des Begriffs der außergewöhnlichen Härte ist Art. 6 Abs. 1 GG Rechnung zu tragen, wobei die Reichweite der Schutzwirkungen dieses Grundrechts durch das Gewicht der familiären Bindungen im jeweiligen Einzelfall beeinflusst wird. Danach gebietet die familiäre Verbundenheit zwischen Eltern und erwachsenen Kindern regelmäßig nicht die Ermöglichung des Familiennachzugs. Vielmehr setzt die Annahme einer außergewöhnlichen Härte nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Vorgängervorschrift des § 22 AuslG grundsätzlich voraus, dass der im Bundesgebiet oder im Ausland lebende Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe angewiesen ist und dass diese Hilfe zumutbarer Weise nur im Bundesgebiet erbracht werden kann. Die mit der Versagung der Aufenthaltserlaubnis eintretenden Schwierigkeiten für den Erhalt der Familiengemeinschaft müssen nach ihrer Art und Schwere so ungewöhnlich und groß sein, dass die Versagung der Aufenthaltserlaubnis als schlechthin unvertretbar anzusehen ist. Dies setzt grundsätzlich voraus, dass der im Ausland lebende Familienangehörige generell nicht in der Lage ist, ein eigenständiges Leben zu führen, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe angewiesen ist und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur im Bundesgebiet durch einen dortigen Angehörigen erbracht werden kann. Ein solches Bedürfnis kann etwa bei schwerwiegender Erkrankung oder Behinderung und/oder bei fortgeschrittenem Alter mit Pflegebedürftigkeit vorliegen und sich auch auf eine unabdingbare psychische Unterstützung beziehen.

Die Familie muss im Kern die Funktion einer Beistandsgemeinschaft erfüllen, dergestalt, dass ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist und sich diese Hilfe nur in Deutschland erbringen lässt. Eine Beistandsgemeinschaft entstehe vielmehr, sobald ein Familienmitglied auf Lebenshilfe angewiesen sei und ein anderes Familienmitglied diese Hilfe tatsächlich regelmäßig erbringe. Unschädlich sei, wenn die Lebenshilfe wegen Berufstätigkeit nur in der Freizeit geleistet werde, solange es sich um die wesentliche Hilfe für den Familienangehörigen handle. Es sind daher die Auswirkungen der Erkrankung der Antragstellerin, die konkret erforderlichen Unterstützungsmaßnahmen sowie die Folgen bei deren Unterlassung vorliegend zu klären, um beurteilen zu können, ob der Antragstellerin tatsächlich aufgrund ihres Gesundheitszustands kein eigenständiges Leben allein in dem jeweiligen Ausland möglich wäre. Bei unterstellter Pflegebedürftigkeit des Ausländers wird genau geprüft, ob die entsprechende Hilfe in zumutbarer Weise nur im Bundesgebiet erbracht werden kann.

Fall: Der im Ausland lebende Ehemann und die noch verbliebene Schwester einer Antragstellerin schieden z.B. alters- und krankheitsbedingt als Pflegepersonen aus, so dass es keiner Erörterung bedarf, ob etwa der getrennt lebende Ehemann rechtlich verpflichtet wäre, die Antragstellerin zu pflegen. Die Annahme einer außergewöhnlichen Härte setzt allerdings nach der Rechtsprechung voraus, dass die tatsächlich geleistete Lebenshilfe nur in Deutschland erbracht werden kann, weil dem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist. Dies wurde in dem  Fall des VG München aus dem Jahre 2006 bejaht:  Beide Töchter der Antragstellerin sind deutsche Staatsangehörige, so dass von ihnen nicht verlangt werden kann, zum Zwecke der Pflege der Antragstellerin ihren Wohnsitz für längere Zeit ins Ausland zu verlegen, zumal nach den ärztlichen Befunden davon auszugehen ist, dass eine Minderung oder ein Wegfall der Pflegebedürftigkeit ihrer Mutter nicht eintreten wird und es sich daher um einen unabsehbaren Zeitraum handeln würde. Denn auch dann, wenn die Antragstellerin unter Verstoß gegen die Visumsvorschriften eingereist sein sollte, führt dies nicht zwangsläufig zur Ablehnung ihres streitgegenständlichen Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 AufenthG. Nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG kann von der Einhaltung der Visumsvorschriften abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis erfüllt sind oder es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumsverfahren nachzuholen. Wichtig aber nach dem VG München: Insbesondere ist der Lebensunterhalt der Antragstellerin gesichert (§ 5 Abs. 1 Nr. 1). Sie kann ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten (§ 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Sie verfügt zwar selbst über kein Einkommen, jedoch werden beim Familiennachzug die Beiträge der Familienangehörigen zum Haushaltseinkommen zu berücksichtigen (§ 2 Abs. 3 Satz 3 AufenthG).
Aktuell BVerwG und VG Berlin 2013: Die Angewiesenheit auf familiäre Hilfe ist nicht in jedem Fall erforderlicher Betreuung gegeben, sondern kann nur dann in Betracht kommen, wenn sonstige, auch außerfamiliäre Hilfen den persönlichen Bedürfnissen des Betroffenen nicht gerecht werden. Dies ist nach dem VG Berlin nur dann der Fall, wenn der alters- oder krankheitsbedingte Autonomieverlust einer Person so weit fortgeschritten ist, dass ihr Wunsch, sich in die Hände engster Familienangehöriger, zu denen typischerweise eine besondere Vertrauensbeziehung besteht, begeben zu wollen, auch nach objektiven Maßstäben nachvollziehbar erscheint (VG Berlin 2013). Auch hier wird deutlich, dass die Härte im Sinne der Vorschrift ein detailliert begründungsbedürftiges Begehren ist, insbesondere da an das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG höhere Anforderungen zu stellen sind als an das Vorliegen einer besonderen Härte im Sinne von § 30 Abs. 2, § 31 Abs. 2 und § 32 Abs. 4 AufenthG (BVerwG 2013).

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